Zwischen Skaterampe und Klassenzimmer

Wie ein Deutscher Skater in Afghanistan „Skateistan“ gründete

Sportnews > Für Zwischendurch Veröffentlicht am Monday, 16. May 2022

Quelle: picture alliance / AP Photo | Uncredited

"Skateistan" ist eine Hilfsorganisation, die 2007 von Oliver Percovich in Afghanistan gegründet wurde. Sinn und Zweck des ganzen ist es bedürftigen Kindern durch sportliche Betätigung und Unterricht weiterzubilden, ihnen neue Möglichkeiten zu schenken und Gemeinschaftsgefühl zu vermitteln. Angefangen hat es mit einfachen Skatestunden in Kabul. Bis heute skaten und lernen Kinder durch die Organisation an 15 Locations weltweit. An weiterer Ausbreitung wird stets gearbeitet.

Wenn du dein Hobby zum Beruf machst, musst du nie wieder einen Tag arbeiten. Den Spruch hat man schon das ein oder andere Mal gehört. Das tun, wofür man sich begeistert, und dann auch noch Geld dafür bekommen – wie könnte man das noch toppen? 

Eigentlich ist die Antwort ganz einfach: Stellt euch vor, euer Schaffen macht nicht nur euch glücklich, sondern auch andere. Schenkt anderen Hoffnung, Perspektive und neuen Mut. Genau das hat Oliver Percovich erreicht, mit seiner selbst gegründeten Organisation: „Skateistan“.

Aller Anfang ist klein

Ohne zu ahnen, dass er schon bald eine Schule für bedürftige Kinder eröffnen würde, reiste der Skater im Februar 2007 mit drei Boards im Gepäck nach Afghanistan. 

Die Aufmerksamkeit, die sein Hobby dort bekommen sollte, ließ natürlich nicht lange auf sich warten. Insbesondere Kinder, die von dem skurrilen Fortbewegungsmittel geradezu begeistern waren, ließen nicht von ihm ab, bis er Ihnen das Fahren zeigte. Es fing an mit kleinen Skatestunden, die er in einem ausgetrockneten Brunnen in Kabul hielt. 

Diese gewannen an immer mehr Zulauf, bis schließlich die erste richtige Skateboard-Schule eröffnet werden konnte. Percovich sah dabei nicht nur den Spaß an der ganzen Sache, sondern auch die Wichtigkeit, wie er in einem Interview in 2012 bei „Skateboard MSM“ erläuterte: „Als ich herausfand, dass 30% der Gesamtbevölkerung Afghanistans unter 16 ist und sich niemand wirklich um sie kümmert, dachte ich, dass Skateboarding den Mädchen und Jungen helfen könnte."

Skaterhelm trotz Kopftuch

Für die Kinder dort ist „Skateistan“ allerdings nicht nur ein Ort, an dem sie lernen auf rollenden Brettern zu fahren. Sie bekommen die Möglichkeit ein Gemeinschaftsgefühl zu entwickeln, Neues zu lernen und Spaß an sportlicher Betätigung zu finden – und das in einer geschützten Umgebung. 

Vor allem für afghanische Mädchen wurde die neuartige Schule zum Game Changer. Denn diese haben, im Vergleich zu den Jungs, kaum Möglichkeiten für Sport und Hobbys. Unterdrückende Gesetze und starke Stammesstrukturen verbieten es ihnen zum Beispiel Fahrrad zu fahren, oder sogar eine weiterführende Schule zu besuchen. 

Diesen, für uns unvorstellbaren, Zuständen wollte Percovich entgegenwirken und Kindern in dem Krisengebiet neue Wege und Ziele bieten. Das gab vor allem dem Leben der jungen Mädchen einen enormen Push, was für den Skater von Anfang an von großer Wichtigkeit war, wie er einst verdeutlichte: „40% der Schüler sind Mädchen, was uns zur größten Sporteinrichtung für Frauen des Landes macht. Ich glaube, dass macht Afghanistan zu dem Land mit dem prozentual größten Anteil an Frauen im Skateboarding. (…) Skateboarding ist dadurch eine Art Frauensport in Afghanistan geworden. (…) Das war für uns von Anfang an eine der Prioritäten.“

In Skateistan ist es nichts außergewöhnliches, dass die Kinder in ihren traditionellen Gewändern skaten. (picture alliance / dpa | Jessica Fulford-Dobson)

Entwicklung der Einrichtung

Im Juli 2009 wurde „Skateistan“ offiziell als afghanische Nichtregierungsorganisation registriert und konnte drei Monate später die erste Skatehalle mit 1750 Quadratmeter eröffnen. Dort wurden den Kindern dann erstmalig, neben Skatestunden, auch Klassenräume mit Bildungsangeboten wie Computerkursen nähergebracht. 

Seither hat sich die Hilfsorganisation immer weiter ausgebreitet und ist in verschiedenen Gebieten in Afghanistan, Kambodscha und Pakistan aktiv. Inzwischen haben sich fünf verschiedene Programme entwickelt, die in und von „Skateistan“ praktiziert werden: „Skate and Create“, „Outreach“, „Back-to-School“, „Dropping In“ und „Youth Leadership“.

Hilfe in fünf Formen

Das Programm „Skate and Create“ ist quasi der Grundbaustein der ganzen Organisation. Die Kinder erfahren eine Balance aus Sport und strukturiertem Lernen. Durch das Skaten und den Unterricht wird den Schülern Gleichheit, Zusammenhalt, Kreativität und breitgefächertes Wissen beigebracht. 

Beim „Outreach“ geht es darum, dass Lehrer und Bezugspersonen zu bedürftigen Kindern hingehen und ihnen helfen, anstatt auf sie zu warten. Zum einen stellen sie neuen Gemeinschaften „Skateistan“ mit seinen Inhalten und Möglichkeiten vor. Zum anderen helfen sie Kindern und ihren Familien in Kontakt mit wichtigen sozialen Hilfsorganisationen zu kommen.

Die Konzepte „Back-to-School“ und „Dropping In“ sind für Kinder, die nicht in öffentliche Schulen gehen. Ihnen wird geholfen, Bildung zu erlangen, ihr Potential zu erkennen und eigene Ziele zu entwickeln. So gut wie alle dieser Kinder gehen nach ein paar Jahren dann wieder, oder zum ersten Mal, in die öffentliche Schule. „Skateistan“ bietet ihnen so also entweder einen Booster, oder das perfekte Sprungbrett für einen aussichtsreichen Bildungsweg.

Durch das Programm „Youth Leadership“ können motivierte Schüler sogar Teil der Entwicklung von „Skateistan“ werden. Diese bekommen ein wöchentliches Training, in dem sie in wichtige Kenntnisse und Fähigkeiten erlangen, um die Lehrkräfte unterstützen zu können. Dabei lernen die Schüler was Verantwortung bedeutet und fungieren für die anderen Kinder als Vorbild. Den jungen Menschen jetzt die richtigen Werte und Verantwortung beizubringen, ist eine der Leitlinien von „Skateistan“, was Percovich in einem Interview aus der Anfangszeit des Projekts folgendermaßen begründete: „Afghanistan hat eine sehr junge Bevölkerung, 50% sind unter 25, also könnte die nächste Generation ganz anders aussehen, als die aktuelle. Es ist eine unheimlich wichtige Zeit im Moment, in Bezug darauf, wovon die nächste Generation beeinflusst wird, wie Afghanistan in zehn oder zwanzig Jahren aussehen wird.“

Auch schon der damalige Bundesaußenminister Guido Westerwelle besuchte die Skateschule in Kabul im Sommer 2011. (picture alliance / photothek | Thomas Imo/photothek)

„Skateistan“ heute

Wie von Beginn an, hat die Organisation das Ziel, sich weiterhin auszubreiten und so mehr und mehr Kindern helfen zu können. 

Im November 2021 startete „Skateistan“ eine Spendenaktion, um so an mehr Ressourcen für Skateschulen zu gelangen. Das Ziel: Bis Ende 2022 wollen sie 1,5 Millionen Euro zusammen haben. Mit dem Geld sollen 20 Locations betrieben und dabei jede Woche circa 4.500 Schüler erreicht werden. Im Zuge dessen sind sie auf einem guten Weg. Es konnten bereits 15 Skateschulen eröffnet werden, in denen sie 3.500 Kindern in der Woche helfen. Bis zum Erreichen des Spendenziels fehlen nur noch 20.000 Euro. Dazu beitragen und spenden kann jeder über ihre Website.

15 Jahre sind es inzwischen, in denen Oliver Percovich und sein stetig wachsendes Team, Kindern zwischen 5 und 17 Jahren hilft, ihr Leben zu verändern. 

„Skateistan“ schenkt ihnen mehr als nur eine Schule. Es ist ein Safe Space, an dem soziale Barrieren zerbrochen, Menschen zusammengebracht und Perspektiven erschaffen werden. Zwischen Skaterampe und Klassenraum lernen die Kinder, was es heißt zu wachsen: in sich selbst und zusammen als Gemeinschaft.

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